Solidarität mit Michel Friedman!

Über Koks, käuflichen Sex und den Antisemitismus der Deutschen.

Die Hälfte der Deutschen ist der Meinung, Michel Friedman solle das Amt als Vizepräsident des Zentralrats der Juden niederlegen (Quelle: Forsa). Stern-Chefredakteur Thomas Osterkorn ist derselben Meinung: „Falls sich der Drogenverdacht bei Friedman erhärtet, ist er als Vize im Zentralrat der Juden wohl unhaltbar.“ (Stern 26/2003, Seite 3) Und im Internet wird das Video, welches angeblich Friedman mit drei Prostituierten und einigen Lines Koks auf dem Tisch zeigt, hoch gehandelt. Im deutschen Dialog, welchen man in jedem Straßencafé verfolgen kann - solange man sich nicht als Jude zu erkennen gibt - wird konstatiert, dass der Friedman ja wirklich ein so arroganter, gehässiger Typ sei, wie es Möllemann seinerzeit behauptet habe.

Es ist gespenstisch: Gerade eine Woche nach Möllemanns Freitod scheint sein Geist wieder aus jedem dahergelaufenen Deutschen zu sprechen. So bleibt es auch wieder den Juden in Deutschland vorbehalten, Friedman den Rücken zu stärken. Ein Freund Michel Friedmans, der Schriftsteller Rafael Seligmann, kennt die Verhältnisse in Deutschland und merkt an: „Wenn sich die Vorwürfe bewahrheiten, wird er gnadenlos fertig gemacht. Alle haben darauf gewartet, dass er strauchelt.“ Paul Spiegel, der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, beteuert, er stehe „hundertprozentig“ hinter Friedman. Und Salomon Korn, der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde in Frankfurt, bemerkte sehr treffend, dass „die Causa Friedman“ ein Testfall ist, „wie es um die deutsch-jüdische Normalität steht.“

Ein Testfall allerdings, bei dem das Ergebnis von vornherein feststand. Denn bei der Schuld Friedmans, von der jetzt überall gesprochen wird, geht es weder um Koks, noch um käuflichen Sex. Tausende deutsche Männer nehmen Drogen zu sich und vergnügen sich mit Prostituierten. Die Schuld Friedmans, die nicht ausgesprochen wird, an die aber jeder denkt, ist es, Jude zu sein. Denn in der Diskussion um Friedman geht es nicht darum, dass er Drogen besessen bzw. konsumiert oder käuflichen Sex genossen haben soll, sondern es geht darum, das antisemitische Bild vom Juden, welches bei den Deutschen nach wie vor vorhanden ist, endlich zu konkretisieren und zu personifizieren. So werden, wenn es um Friedman geht, die ältesten antisemitischen Stereotypen ausgepackt: Ungehemmter Sexualtrieb, (sexuelle) Omnipotenz, Feiern von Orgien, undurchschaubare Geschäfte, Wirken im Verborgenen, reich, extravagant, wurzellos, kosmopolitisch und außerdem - aufgrund der „Antisemitismuskeule“ - unantastbar.
Michel Friedman gilt als „Propagandist Israels“ (Stern 26/2003, Seite 38), weil er die bewaffnete Verteidigung des jüdischen Staates gegen die antisemitischen Mordbanden von Hamas und Al Aqsa Brigaden nicht als Verletzung der Menschenrechte bezeichnet, wie es sonst in Deutschland üblich ist. Und auch an diesem Punkt wird wieder deutlich, wie wenig Möllemanns Äußerungen ein Tabubruch waren. Im Gegenteil, er sagte nur das, was sowieso schon jeder dachte: Dass die Juden einen Staat im Staate bildeten und sich somit nicht wundern müssten, wenn ihnen jemand mangelnde Objektivität bei der Beurteilung des Nahostkonfliktes vorwerfe. Die Einsicht, dass Israel in der Tat für Juden kein Staat wie jeder andere ist, sondern ein potentieller Zufluchtsort vor dem Antisemitismus, falls dieser sich in Krisenzeiten wieder offen in Pogromen oder Schlimmerem austoben sollte, ist den Deutschen schon deshalb ein Rätsel, weil für sie Antisemitismus nie Antisemitismus, sondern immer nur „berechtigte Kritik“ oder ein „Tabubruch“ ist.

Auch die Linke will die Kontinuität des Antisemitismus in Deutschland nicht wahrhaben und versucht den Holocaust zu verdrängen. Zwar beschäftigt sie sich zum Teil mit allerlei Antisemitismus-Theorien und organisiert Demonstrationen gegen Neonazis, aber das Naheliegende kommt ihr nicht in den Sinn: Die Solidarität mit allen (potentiellen) Opfern des Antisemitismus und dem Staat Israel. Praxis der Linken ist es nach wie vor, die Massen zu agitieren und dabei den „Antifaschismus“ als völlig beliebiges Label zu missbrauchen. Die deutsche Geschichte kommt in der linken Agitation gar nicht mehr vor. Denn sonst wäre eine auf deutsche Massen ausgerichtete Politik nicht nur unmöglich, sondern zu bekämpfen. Dazu passt auch, dass man jetzt, wo es deutschen Juden an den Kragen geht, lieber die Schnauze hält.

Michel Friedman ist eine der wichtigsten Persönlichkeiten beim Wiederaufbau der jüdischen Gemeinde in Deutschland. Ein kompromissloser Kritiker des Antisemitismus, der in seiner Denunziation des deutschen Wesens vor niemandem Halt macht, nicht vor Jürgen Möllemann, nicht vor Helmut Kohl und auch nicht vor Christian Ströbele. Und er ist ein waschechter Liberaler, der nicht die Harmonie zum obersten Prinzip erhoben hat, sondern sich eine „Dissensgesellschaft“ wünscht und sich schon aus diesem Grund äußerst positiv vom deutschen Durchschnittsbürger abhebt, der sich immer nach der Aufhebung des Individuums im Kollektiv sehnt.

Michel Friedman, gewiss kein Freund der Idee des Kommunismus, ist damit dennoch der Vorstellung vom „Verein freier Menschen“ (Marx) näher als jeder deutsche Sozialist. Dass der Antisemitismus, das „Gerücht über die Juden“ (Adorno), nicht nur einfach ein Rassismus unter vielen ist, sondern eine Weltanschauung darstellt und am Ende immer zur Vernichtung der Juden drängt, ist die bittere Wahrheit, die aus der Geschichte zurück bleibt. Der fast schon automatische Reflex, seine unterdrückten Sehnsüchte und sein verkorkstes Leben auf die Juden zu projizieren, ist bereits Ausdruck der Konterrevolution, die jeder Vernunft eine Absage erteilt. Bevor nicht der Antisemitismus aus der Welt geschafft ist, wird die Gesellschaft freier Individuen stets nur eine Utopie sein können.

Allen Leuten, denen es ernst ist mit ihrer Gegnerschaft zum Antisemitismus, ist in dieser Situation nur eine Möglichkeit gegeben: Die bedingungslose Verteidigung Michel Friedmans.


(22. Juni 2003)

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