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WIR GEGEN DIE
Kritik des linken Staatsfetischismus
"Weder das Proletariat noch die Kapitalistenklasse soll durch
ihn (den Staatssozialismus) aufgehoben, sondern das Verhältnis zwischen
beiden ein für allemal unverrückbar von Staats wegen festgesetzt
werden. Die Kapitalisten sollen sich in eine Art von höheren Staatsbeamten
verwandeln, die unter der Aufsicht des Staates die Produktion leiten und
dafür die vom Staat festgesetzten Gewinnanteile einstreichen. Soweit
es im Interesse des Staates und der herrschenden Klassen erforderlich
erscheint, soll die Produktion direkt verstaatlicht werden. Aber die Ausbeutung
der Arbeiterklasse soll bestehen bleiben; sie wird bloß von Staats
wegen geregelt."
Karl Kautsky über den Staatssozialismus, 1891
Was Karl Kautsky schon lange vor dem Ersten Weltkrieg als Warnung formulierte,
sollte Wirklichkeit werden. Die Diktatur des Proletariats konnten
sich die Sozialdemokraten spätestens seit dem Gothaer Programm nicht
mehr als staaten- und klassenlose Gesellschaft vorstellen, denn der Staat
bildete für sie den Schlüssel zu einer freien und gerechten
Gesellschaft: "Die deutsche Arbeiterpartei verlangt, um die Lösung
der sozialen Frage anzubahnen, die Errichtung von Produktivgenossenschaften
mit Staatshilfe unter der demokratischen Kontrolle des arbeitenden Volkes"
(1). Seither gaben sich die Sozialdemokraten alle Mühe den Staat
nicht abzuschaffen, sondern ihn zu erobern und für die Interessen
des Proletariats umzufunktionieren. Die Vorstellung, der Staat sei lediglich
eine beliebig zu füllende Form, kommentierte Marx so: "Es
ist dies würdig der Einbildung Lassalles, dass man mit Staatsanlehn
ebenso gut eine neue Gesellschaft bauen kann wie eine neue Eisenbahn!"
Diese Einbildung musste sich in dem Augenblick als fatal erweisen, als
die erste größere ökonomische Krise auf den Plan trat.
Die an Lassalles Staatssozialismus orientierte SPD ermöglichte durch
die Bewilligung der Kriegskredite die kriegswirtschaftliche Formierung
des nationalen Kollektivs als Wehrgemeinschaft. Von Bismarck vorgemacht
und von führenden sozialdemokratischen Theoretikern bestaunt, schaffte
der Krieg sowohl die temporäre Stilllegung des Klassenkampfes als
auch eine ungeheure Steigerung der Produktivkräfte.
Vom Kriegssozialismus zum Volksstaat
Nach 1918 erwies sich die Kriegswirtschaft als weitgehend unrevidierbar.
Die Arbeiter, zu hunderttausenden als Soldaten im Dienst des Staates arbeitslos
geworden, waren auf Alimentation angewiesen, die Unternehmen hatten ihre
Produktion auf Staatskonsum umgestellt, da der gesamte Export zusammengebrochen
war und im Innern der einzig solvente Abnehmer das kriegführende
Deutsche Reich gewesen war. Die große nationalistische Mobilmachung
im ersten Weltkrieg trug ebenfalls ihre Früchte: Zum ersten mal war
der Nationalismus kein einfaches Herrschaftsinstrument mehr, sondern reproduzierte
sich selbstständig in den Köpfen der Deutschen. War die Nation
zuvor ein Kampfbegriff gegen den Marxismus gewesen, der immer wieder darauf
verwies, die Welt teile sich nicht in Völker und Nationen, sondern
in Klassen, so war die Nation im Ersten Weltkrieg tatsächlich zur
Realität geworden. Die revolutionären Versuche kleinerer Teile
der Arbeiterbewegung wurden indes bereits zu Beginn der Weimarer Republik
von der mitgliederstarken Sozialdemokratie im Keim erstickt, das Ziel,
die Stilllegung des Klassenkampfes im demokratischen Volksstaat fortzuführen,
wurde bisweilen blutig gegen die kommunistische Opposition durchgesetzt.
Und so war die Weimarer Republik zwar der liberalste Staat auf deutschem
Boden, wie auch immer wieder anerkennend von bürgerlichen Historikern
zugestanden wird, aber dennoch war sie wesentlich die Demokratisierung
der Volkstaats-Ideologie, nach der Egoismus und Klasseninteresse der Gemeinschaft
schaden und nur die Verpflichtung aller auf das nationale Wohl den Einzelnen
als Volksgenossen zugute kommt.
Gemeinwohl gegen Juden
Der Nationalsozialismus konnte auf diesen Volksstaat aufbauen, denn er
war in Bezug auf die totale Erfassung der Bürger durch den Staat
die "konsequentere Sozialdemokratie" (Willy Huhn).
Erst der NS-Staat machte der bürgerlichen Gesellschaft vollends den
Garaus und überantwortete die krisengeschüttelte privatkapitalistische
Ökonomie einem Staatskapitalismus, der die Krise durch Tod und Vernichtung
zu bannen trachtete. Denn im Gegensatz zur verhängnisvollen traditionsmarxistischen
Faschismus-Definition war der Nationalsozialismus eben keine Klassenherrschaft,
sondern die negative Aufhebung der Klassengesellschaft durch Formierung
der Volksgemeinschaft von Arbeit, Kapital und Staat. Alles war identisch
geworden: Deutschland kannte keine Individuen mehr, sondern nur noch das
Projekt der Vernichtung der europäischen Juden. Ob der Schaffner,
der die Eisenbahnwaggons nach Auschwitz fuhr, ob der Arbeiter, der Waffen
für den Vernichtungskrieg produzierte, ob der Unternehmer, der im
Auftrag des Staates Volksempfänger herstellen ließ, ob die
Ehefrau, die die Kinder zu guten deutschen Soldaten erzog, ob der Beamte,
der die Verwaltung des Massenmordes gewissenhaft und mit einigem Abstand
betrieb - an Schoah und Vernichtungskrieg beteiligten sie sich alle. Jede
ökonomistische Unterscheidung verschleiert die Eintracht, in der
die Deutschen sich auf ihre Weise der Krise erwehrten.
Die Blüten der Vernichtung
Und so verwundert es auch nicht, dass die Deutschen nach 1945 jeden Gedanken
zu verdrängen suchten, der die Ursachen des sogenannten Wirtschaftswunders
auf die Beute der Arisierungen zurückführte und dass sie die
Genese der deutschen Produktivität von der Kriegswirtschaft abtrennen
wollten, um die Belohnung für die von ihnen begangenen Verbrechen
mit der ihnen eigenen Tüchtigkeit oder einem besonderen Zusammenhalt
zu begründen. Das nationale Wir war in die postfaschistische
BRD hinübergerettet. Die nationalsozialistische Volksgemeinschaft
wandelte sich unter dem Druck der alliierten Besatzung und unter dem Eindruck
der Errichtung eines "sozialen und demokratischen Rechtsstaates"
zur Solidargemeinschaft. Das postfaschistische Gebilde wurde durch den
erbeuteten Wohlstand und den Marshall-Plan zusammengehalten, die zaghaften
Versuche der überlebenden Kommunisten, einen Klassenkampf zu initiieren,
scheiterten, woraufhin sie sich an die Geißelung der Besatzungsmächte
im Zeichen eines durch und durch völkischen Antiimperialismus begaben,
der an die NS-Ideologie anknüpfte. Was die Deutschen vereinte, war
die Relativierung der Verbrechen und die Behauptung, die Nazis seien eine
von den Deutschen zu trennende Gruppe gewesen. Während die
Nachkriegselite alle Zeichen auf Westbindung stellte und einfach verschwieg,
dass viele ihrer ehemaligen Parteikameraden immer noch in Amt und Würde
waren, zimmerte die Linke maßgeblich an dem Mythos, das Volk
sei unschuldig und lediglich von den Kapitalisten und Parteibonzen missbraucht
worden.
Gutes Volk gegen "Mammonismus"
Der Konsens der postfaschistischen Gesellschaft ist es, das an sich gute
Volk gegen alle möglichen äußeren und inneren Feinde zu
verteidigen, weil damit einerseits die Schuld geleugnet wird und weil
andererseits das Betriebsgeheimnis der BRD darin besteht, alle Einzelinteressen
dem Gemeinwohl unterzuordnen. Der Europäische Gewerkschaftsbund z.B.,
das hat das linksradikale Bündnis begriffen, "stellt sich
demonstrativ an die Seite des europäischen, 'guten’, produktiven
Kapitalismus mit seinem »traditionellen Ansatz ... des sozialen
Dialogs« gegenüber dem schnöden, spekulativen »Shareholder-Value«-Kapitalismus
made in USA". Kapitalismus ist nicht notwendigerweise schlecht,
sondern nur dann, wenn er der Gemeinschaft schadet. Das ist deutsche Ideologie
in Reinform. Antiamerikaner wie diese verteidigen die repressive Gemeinschaft
gegenüber geldhungrigen US-Investoren und Börsenmaklern von
der Ostküste. Dass der Kapitalismus das Geld als Vermittler alles
Irdischen setzt, das Geld also ganz real die Funktion Gottes übernimmt
und so ein jeder bei Strafe des Unterganges dazu verurteilt ist, es anzubeten
und zumindest einen Teil seines Lebens auf Erwerbung desselben auszurichten,
ignorieren sie. Die Idee, das Unheil durch "sozialen Dialog"
erträglicher zu machen, verrät schon, wie sehr die Gewerkschaften
es sich zur Aufgabe gemacht haben, das Elend zu verwalten, anstatt, wie
in Marxens Zeiten, eine revolutionäre Organisation aufzubauen. Doch
an den Gewerkschaften zu kritisieren, sie seien nicht revolutionär,
ist angesichts der Tatsache, dass die Gewerkschaften ein fester Bestandteil
des Sozialstaates sind und die einzelnen Mitglieder wohl eher für
einen Krieg gegen die USA zu gewinnen wären, denn für eine kommunistische
Revolution, absurd.
Die Kritik des linksradikalen Demo-Bündnisses am EGB müsste
eigentlich zur Selbstkritik führen. Denn sie selbst wollen ja die
lokale basisdemokratische Elendsverwaltung gegen den Marktliberalismus
ausspielen: "Seien es Streiks für generelle Arbeitszeitverkürzungen,
Aneignungskampagnen wie die der Umsonst-Gruppen oder die Bemühungen
um Soziale Zentren – auch in Deutschland ist einiges in Bewegung
geraten." Was so klassenkämpferisch daherkommt, ist lediglich
Flankenschutz für die Verschlankung des Staates. Denn obwohl es immerzu
so bezeichnet wird: Mitnichten ist die Agenda 2010 der Abbau des Sozialstaates
- abgebaut wird lediglich die staatliche Alimentierung. Der massive Staatskonsum,
der die gesamte nachbürgerliche Epoche auszeichnet - nicht nur in
Deutschland, sondern global - wird ebenso weiter betrieben, wie die Rolle
des Staates als Vermittler zwischen Kapital und Arbeit. Die Aufgabe der
Alimentierung sozial Schwacher hinterlässt eine Lücke, die gefüllt
werden muss. Dazu wird der Staat privatisiert. In Köln hat diese
Inanspruchnahme der Pflichten des Staatsbürgers - dem Gemeinwohl
zu dienen - eine besonders verbreitete Tradition in der Veedel-Politik.
Ausgerechnet auf diese als emanzipatorische Kraft zurückgreifen zu
wollen, belegt, dass auch radikale Linke in der Logik des Staates denken.
Auf die Idee zu kommen, dass lokale Hilfsstationen, seien es Umsonstläden
oder Suppenküchen, einen Rückschritt darstellen, weil sie das
Überleben des Einzelnen von der Willkür einzelner Engagierter
abhängig machen, kommen sie nicht.
Nicht besser, sondern viel schlimmer als bei FAU und Co. sieht es bei
dem neuen Wahlbündnis Gemeinsam gegen Sozialraub aus, hinter
dem sich SAV, ISL und DKP verstecken. Schon der Name verkündet ihr
Anliegen: Den Kapitalismus in eine Verschwörung umzulügen, aus
einem Ausbeutungs- und Herrschaftsverhältnis einen gemeinen Plan
raffgieriger Gestalten zu machen, um den Volkszorn auf seiner Seite zu
haben. In ihrem Aufruf, in dem sie zynischerweise den angeblichen Sozialraub
in der Erhöhung von Schwimmbadpreisen wittern, schreiben sie schlimmeres
als diejenigen, die das notwendige Entstehen von Armut und Elend in dieser
Gesellschaft durch ihre Privatisierungsvorschläge wenigstens offen
und ehrlich aussprechen. Sie verklären die Armut zur Folge einer
persönlichen Boshaftigkeit, die sich ja bekanntlich nur durch Eliminierung
der bösen Personengruppe - jeder Deutsche weiß, mit wem er
diese Personengruppe identifizieren muss - aus der Welt schaffen lässt.
Sie beginnen ihren Aufruf bereits mit purem Sozialneid: "Der
Spitzensteuersatz wird dieses und nächstes Jahr weiter gesenkt. Ein
Einkommensmillionär hat dann 5600 € mehr - jeden Monat. Aber
es gibt Widerstand." Sie verteidigen den kleinen Mann gegenüber
der großen Politik und vollziehen damit das ewige deutsche Selbstgespräch
Wir da unten gegen die da oben: "Immer weniger Leute gehen zur
Wahl, weil man ohnehin nur wählen kann, wie und von wem man ausgeplündert
wird." Das ist die Sprache von Nationalzeitung und Konsorten.
Bereits das Wörtchen man, dass nur die benutzen, die zwanghaft
vom Individuum abstrahieren müssen, verrät, dass hier mal wieder
jener deutsche Volkssozialismus am Werke ist, der, wie eingangs beschrieben,
nicht an Emanzipation interessiert ist, sondern an Einreihung ins nationale
Kollektiv. Und wie die Sozialdemokraten sich die Diktatur des Proletariats
nur als Volksdiktatur und diese nur als Volksstaat vorstellen konnten,
so stellt auch das Wahlbündnis seine Forderungen einzig an den Staat.
Er ist zu ihrem einzigen Adressaten geworden, weil sie sich mit ihm identifizieren,
weil sie ihn ganz fetischistisch als Vermittler anbeten. Und um noch einmal
zu betonen, dass sie wirklich keinerlei individuelle Interessen, sondern
nur das Gemeinwohl im Sinn haben, verkünden sie stolz: "Alle
unsere Kandidatinnen und Kandidaten verpflichten sich, keinerlei Privilegien
durch ihre Ratstätigkeit anzunehmen. Wir fordern die Offenlegung
sämtlicher Einkünfte der Politiker." Damit stehen
sie dem DGB in nichts nach, der fordert: "Wir wollen Reformen,
die uns alle nach vorn bringen." Und auch nicht der NPD, die
schon lange die Parteinahme für den Sozialstaat mit der Hetze gegen
sogenannte Sozialschmarotzer und Millionäre verknüpft. Und so
lautet das durch den Staat gebündelte und in Gesetze gefasste nationale
Programm: Krisenbewältigung unter reger Anteilnahme der Bevölkerung!
Alle gemeinsam für Deutschland!
Die Liebe zum Staat
Dass sämtliche politischen Gruppen - ob nun links, rechts oder Neue
Mitte - sich an den Staat als Sachwalter des Gemeinwohls wenden, hat einen
spezifischen Grund: Weil hierzulande der bürgerliche Staat nicht
vom, sondern gegen das Bürgertum installiert werden musste, gibt
es in Deutschland die Spaltung des Bürgers in einen politischen,
den citoyen, und einen ökonomischen, den bourgeois,
nicht. Der deutsche Staatsbürger glaubt an die demokratische Ideologie
vom "Staat des ganzen Volkes" so sehr, dass er es sich
beileibe nicht vorstellen kann, der Staat könne einseitig Interessen
vertreten. Sobald ein solcher Schritt jedoch erkennbar wird, sucht er
nach Schuldigen, die er für den Missbrauch des Staates verantwortlich
machen kann: karrieristische Politiker, geldgeile Unternehmer und Börsenmakler,
korrumpierte Bürokraten. Der Volkszorn richtet sich stets gegen jene,
die er verdächtigt, egoistische Interessen wahrzunehmen. Dem setzt
er die Gemeinschaft entgegen, die, hübsch verpackt in Begriffe wie
"sozial", "gerecht" oder "gemeinwohlorientiert",
immer nur die Eingliederung ins nationale Kollektiv meint. Wer sich dem
Zwang zur Unterordnung individueller Wünsche und Interessen entgegen
stellt, wird als "Schädling", "Parasit"
oder "Schmarotzer" flugs zu einem Tier erklärt,
dass sich besser beseitigen lässt, bevor es größeren Schaden
anrichten kann. Denn erlaubt ist nur, was und vor allem wer "sozialverträglich"
ist, wer also der Gemeinschaft nicht zur Last fällt, weil er nicht
mehr oder nicht mehr produktiv genug arbeiten kann. Die radikale Linke
durchschaut diese Ideologie nur teilweise: Wenn sie nicht gerade selbst
dabei ist, den Rheinischen- gegen den Manchester-Kapitalismus zu verteidigen
oder den war on terrorism des materiellen Interesses zu zeihen
und ihm den an Menschenrechten und höheren humanistischen Werten
orientierten deutschen Frieden entgegen zu halten, dann schafft sie es
gerade noch, das Gerede vom "Sozialschmarotzer" als
faschistisch zu entlarven. Soll die Kritik jedoch weitergehen, versagt
die radikale Linke kläglich, wenn sie selbst immerzu das Soziale
gegen den Egoismus in Stellung bringt und dem Staat vorwirft einen "Sozialraub"
zu begehen. Bevor die Linke in Deutschland nicht mit dem Staat gebrochen
hat, ist mit ihr kein Kampf gegen den Kapitalismus zu führen, weil
ihr Kapitalismus stets nur als böse Machenschaft gemeinschaftsschädigender
Kräfte erscheint. Solcherlei Antikapitalismus ist das Gegenteil von
Emanzipation: Er treibt die Menschen noch tiefer in die Abhängigkeit
vom Staat, er entmündigt sie immer mehr und macht aus bürgerlichen
Subjekten Befehlsempfänger mit eigenem Riecher für vermeintliche
Bedrohungen der Gemeinschaft, derer es sich zu erwehren gilt.
Gegen den Sozialstaat!
Kommunismus statt Gemeinwohl!
(3. April 2004)
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