Farbbeutel, Böller und dummes Geschwätz
Über das Kasperletheater der „Antinationalen“

Als sich 1992 in ironischer Anspielung auf die jakobinische Terrorherrschaft so genannte „Wohlfahrtsausschüsse“ gründeten, die den DDR-Bürgern auf einer Konzert- und Vortragstour durch die neuen Bundesländer „Handlungsmöglichkeiten für eine neue antirassistische Praxis“ [1] aufzuzeigen suchten, ging es ihnen darum, die Ossis vor den Nazis – also vor sich selbst – in Schutz zu nehmen. Man nannte das die „symbolische Verteidigung des öffentlichen und privaten Raumes gegen den wachsenden Einfluß neofaschistischer Gruppen“. Zwar scheiterte das Projekt, weil die angereisten westdeutschen Linken zumeist unter sich blieben, aber – so vermeldete der heutige taz-Redakteur Andreas Fanizadeh 1994 stolz – nach „langer Zeit versuchte wieder einmal ein Verbund aus linken Künstlern, Intellektuellen und Polit-Gruppen mit einer spektakulären Aktion gegen kapitalistische Vergesellschaftung und repressiven Nationalstaat Front zu machen“ [2]. Dieser Verbund nannte sich „antinational“ und sollte sich bald schon, den schlechten linken Traditionen treu bleibend, eine Bewegung schimpfen.

Wenn heute eine Handvoll Antifa-Gruppen die „Antinationalen“ wieder aufleben lassen möchte, dann zeugt das nicht nur von vollkommener Unkenntnis oder Ignoranz gegenüber der Geschichte der deutschen Linken, sondern ist zugleich ein Ausdruck unreflektierter Hilflosigkeit. Die Erkenntnis, dass die klassische Antifaarbeit heute von Staat und Zivilgesellschaft übernommen wird, paart sich mit dem auftrumpfenden Wissen darüber, dass das ewige Kritisieren der Antideutschen auch nicht zu Macht und Einfluss („gesellschaftliche Relevanz“) führt. In einem ebenso kopf- wie fantasielosen Kraftakt wird versucht, ein bereits vor 10 Jahren zu Tode kritisiertes Politikmodell [3] wieder flott zu machen.

Doch so beliebig, wie es auf den ersten Blick scheint, ist die Neubelebung der antinationalen Bewegung nicht. Was die Gruppen des Ums Ganze-Bündnisses, die das Projekt der Totenbelebung vorantreiben, mit ihren Vorgängern teilen, sind die verbalradikalen Phrasen, der gegen Deutschland gerichtete Antiimperialismus und die positive Bezugnahme auf das Volk bzw. „die Menschen“. Man erklärt uns: „Seit dem Wiedervereinigung genannten Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland feiert sich dieser Staat und ein Großteil der ihm als Nation unterworfenen Menschen am 3. Oktober selbst.“ [4] Die implizite Behauptung, die Wiedervereinigung sei eigentlich gar keine gewesen, sondern werde nur so „genannt“, knüpft an das Annexionstheorem der Radikalen Linken (des Vorläufers der antinationalen Bewegung) an, die „den Imperialismus“ für den Untergang der DDR anprangerte. [5] Heute spricht man aus Gründen politischer Opportunität nicht mehr von „Imperialismus“, sondern vom „globalen Kapitalismus“, was aber inhaltlich gesehen auf das gleiche hinausläuft. Beide Ausdrücke sind Chiffren für eine böse Macht, die die Geschicke der Welt lenke und die man einfach mal so „angreifen“ könne. Materialistische Ideologiekritik, die das Kapitalverhältnis als eine fetischistische Form der Reichtumsproduktion und damit als „Herrschaft der Sachen über die Menschen“ (Marx) zu begreifen imstande ist und deshalb grundskeptisch gegenüber allen angeblich revolutionären Aktionen ist, hält man deshalb auch für einen „konservativen Romantizismus: Abgeschlossen von allem, kultiviert der arme Poet in der Dachkammer seiner Intellektualität Empfindsamkeit und Gelehrigkeit, nur sich selbst und der Wahrheit verpflichtet.“ Das Ressentiment gegen Kunst, Intellektualität und Wahrheit zeigt bereits, wie wenig der ‚Kommunismus’ der Antinationalen mit Vernunft und Glück zu tun hat – ihnen geht es ums ‚Machen’, um die Randale und nicht zuletzt um das Event. Wer ohnehin nur auf den Putz hauen will, der braucht sich konsequenterweise um solche elementaren Dinge wie die Sprache nicht mehr zu kümmern. Und so bestätigen die Antinationalen nicht nur das Diktum Karl Kraus’ – „Die Gedankenfreiheit haben wir. Jetzt brauchen wir nur noch die Gedanken“ –, sondern beweisen auch mit jedem Flugblatt, dass deutsch denken und Deutsch können zwei unterschiedliche Angelegenheiten sind. [6] Verständlich, dass solche Leute nichts mit „Gedichten“ anfangen können, vor allem, wenn diese nicht „gegen Deutschland helfen“.

Auch der Gedanke, die Menschen würden vom Staat als Nation „unterworfen“, schließt direkt an den antinationalen Antiimperialismus der 1990er Jahre an, der ebenfalls glaubte, die Deutschen aus den Fängen der Nation befreien zu müssen – und zwar ohne ihnen „etwas besseres als die Nation“ bieten zu können. Die Ums Ganze-Gruppen verstehen nicht oder wollen nicht verstehen, dass die Menschen gar nicht mehr unterworfen werden müssen, sondern sich aus freien Stücken als Volk aufführen. Es handelt sich dabei nicht einmal um einen „Fehler“, wie die Antinationalen im guten alten MG-Sprech meinen, sondern um das notwendig falsche Bewusstsein, dass jeder, der nicht deutsch ist, in Deutschland schlechte Karten hat und haben soll. Die Identifikation mit der Produktionsgemeinschaft rührt nicht nur aus Kindheitserinnerungen an die schönen Wiesen und Felder in Mecklenburg-Vorpommern, sondern vor allem aus der keineswegs nur eingebildeten Zugehörigkeit zu einem Kollektiv, dem der Einzelne auf Gedeih und Verderb ausgeliefert ist. „Der Paß“, sagt Kalle in Brechts Flüchtlingsgesprächen, „ist der edelste Teil von einem Menschen. Er kommt auch nicht auf so einfache Weise zustand wie ein Mensch. Ein Mensch kann überall zustandkommen, auf die leichtsinnigste Art und ohne gescheiten Grund, aber ein Paß niemals. Dafür wird er auch anerkannt, wenn er gut ist, während ein Mensch noch so gut sein kann und doch nicht anerkannt wird.“ [7] Es ist jene der falsch verfassten Gesellschaft entspringende Objektivität der Nation, die alle Versuche, die Form (Nation) gegen den Inhalt (‚die’ Menschen) auszuspielen, zum reaktionären Unternehmen macht. Die vermeintlich so radikale Kritik von Ums Ganze entpuppt sich als Unmittelbarkeitsfimmel, als volkstümliche Agitation, die schnell in eine Kumpanei mit dem Mob umschlagen kann. Die Kapitalsubjekte einfach „abholen“ und gegen Kapital und Staat in Stellung bringen zu wollen, kommt einem Aufruf zum Pogrom gleich. Der spontane Antikapitalismus der Straße und der Feuilletons ist, das sollte auch bei Ums Ganze angekommen sein, antisemitisch.

Vor allem aber ist die Kritik der Nation selbst ideologisch, weil sie das Ungleiche gleich macht: Die Antinationalen plädieren, ungeachtet der originär deutschen Implikationen [8], für die unterschiedslose und sofortige Abschaffung aller Nationalstaaten. Diese Forderung bedeutet in Zeiten des globalisierten Antisemitismus nichts weniger als die Unterstützung der Drohungen eines Ahmadinedschad, Israel auszulöschen. Betrachtet man, wer da alles so unter den Referenten ist, die Ums Ganze-Gruppen in den letzten Monaten eingeladen haben, dann wird deutlich, dass ihnen diese Propaganda gegen Israel nicht „passiert“, sondern dass sie voll und ganz beabsichtigt ist. [9] Das spiegelt sich auch in ihren Aktionen und Texten: Man agitiert energisch gegen Israelfahnen auf Demonstrationen und begründet das so: „Antideutsche Linke“, die „Israel- bzw. Alliiertenfahnen aus dem Zweiten Weltkrieg als Zeichen ihrer ‚kompromisslosen Ablehnung’ Deutschlands“ auf Demonstrationen mitbringen, seien „Reformisten“, weil die Fahnen signalisierten, dass die Antideutschen „diesem Staat immer noch mit dem Verweis auf die besonderen Verbrechen seiner Geschichte an den Kragen“ wollen – und nicht aufgrund einer allgemeinen Gegnerschaft zu Staat und Kapital. Dass Ums Ganze gewillt ist, den Nationalsozialismus als Nebenwiderspruch und ärgerlichen Zwischenfall ad acta zu legen, ist unübersehbar. Diese Schlussstrichforderung geht, wie bei jedem Reaktionär, mit einer Apologie der Deutschen einher. Nicht sie, die sich zur Volksgemeinschaft zusammenrottenden Deutschen, hätten die Verbrechen begangen, sondern „der Staat“. Und der war, wie uns sicherlich Guido Knopp gerne bestätigen wird, schließlich ein ‚Unrechtsstaat’. Sämtliche kritischen Analysen des Nationalsozialismus, seien sie von Franz Neumann, Heinz Langerhans oder Herbert Marcuse, werden von den Antinationalen schlicht ignoriert. Denn mit dem Nationalsozialismus haben sie abgeschlossen. Den brauchen sie für ihre ‚Kritik’ nicht mehr.

Denn längst schon ist ihnen die Theorie nichts weiter als eine bloß aufgesetzte Legitimation ihrer antinationalen „Praxis“. Sie postulieren, womit in der Geschichte der Linken schon so mancher Blödsinn gerechtfertigt wurde: „Wer sich raus hält, kann schließlich auch nichts falsch machen.“ Angst davor, Dummheiten zu begehen, kann man den Antinationalen auch nun wirklich nicht nachsagen. Stattdessen haben sie den Mut zum Mitmachen. Heißt es einerseits, durchaus richtig: „Es gibt momentan keinen Ort und keine Strategie, der oder die eine revolutionäre Perspektive anbieten kann“, so zieht man daraus die verquere Schlussfolgerung: „Antinationalismus muss praktisch werden.“ Man wolle, heißt es großsprecherisch, die Kritik „als Vaterlandsverrat praktisch“ machen. An wen das Vaterland verraten werden soll, verraten die wackeren Revolutionäre leider nicht – vielleicht an „die Menschen“? Die ehemaligen Alliierten können es jedenfalls nicht sein. Das „praktisch machen“ wird als „Sabotage im institutionellen Tagesgeschäft des demokratischen Staates“, die das „Jenseits der Nation […] erfahrbar“ mache, expliziert. Jenseits von Gut und Böse ist jedenfalls dieses esoterische Gewäsch. Das mit der „Sabotage“ klingt natürlich schwer militant und tatsächlich seien, so erklärt man, die „Möglichkeiten solch eines praktischen Antinationalismus […] vielfältig“, aber jeder weiß doch, dass die „Sabotage“ von Ums Ganze in so schnöden Dingen wie herkömmlichen Demonstrationen mit schlechter Technomusik, Farbbeuteln auf böse Kapitalistenfirmen und Böllern vor irgendwelchen Verwaltungsgebäuden besteht. Anstatt diesen Jux auf Karneval und Silvester zu verschieben, wenn auch all die anderen Jecken sich an solchen Spielereien erfreuen, veranstalten die Antinationalen ehrenamtlich ein paar Extraevents (in Berlin nennt man sie neuerdings sogar schon „Paraden“; nur Dr. Motte hat man noch nicht eingeladen, aber das kann ja noch kommen [10]).

Wenn der Kölner Antifa AK am 30. Oktober zu einer Podiumsdiskussion mit dem Thema „Geschichte der Antinationalen“ einlädt, dann kann man sich (vermutlich vergeblich) nur wünschen, dass zumindest Thomas Ebermann den Anwesenden erklärt, warum die Antinationalen besser „Geschichte“ bleiben und keine „Zukunft“ haben sollten. Dann könnte man vielleicht auch darüber streiten, wie eine materialistische Kritik auf der Höhe der Zeit in kommunistischer Absicht auszusehen hätte. Solange aber Gruppen wie die des Ums Ganze-Bündnisses, dem Zeitgeist entsprechend, die Ignoranz gegenüber dem Antisemitismus zum politischen Programm erheben, gilt es, diese pseudoradikalen Figuren mit Verachtung zu strafen. Jeder Kommunismus, der den Namen verdient, ist antideutsch. Und das impliziert vor allem die unbedingte Solidarität mit dem Staat Israel.


Dieses Flugblatt wurde gestern vor einer gut gefüllten, mit "Zur Geschichte und Zukunft der Antinationalen" betitelten Veranstaltung des Antifa AK Köln (Mitglied bei Ums Ganze) mit den Referenten Thomas Ebermann, Jutta Ditfurth und Mr. Konspirativ von TOP Berlin verteilt:


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Anmerkungen:

[1] Wohlfahrtsausschuß Hamburg: Unser Minimalziel. Einladungsflugblatt zur ersten Diskussion um ‚Etwas Besseres als die Nation’ (Dezember 1992), in: Wohlfahrtsausschüsse (Hrsg.): Etwas Besseres als die Nation. Materialien zur Abwehr des gegenrevolutionären Übels, Berlin – Amsterdam 1994, S. 17.

[2] Andreas Fanizadeh: Vorwort, in: Etwas Besseres als die Nation, a.a.O., S. 9.

[3] Vgl. die Bahamas Nr. 29 (1999) mit dem Titel: Triumph des Antinationalismus. Krieg für Selbstbestimmung und darin insbesondere den Artikel von Justus Wertmüller: Ein starkes Stück Deutschland. Die deutsche Linke ist mindestens so antinational wie ihre Regierung, S. 5-9.

[4] AK Antifa Köln/Autonome Antifa F et al: Gegen Deutschland helfen keine Gedichte!, Flugblatt zu den Einheitsfeierlichkeiten in Saarbrücken am 2. Oktober 2009. Alle weiteren, nicht anders ausgezeichneten Zitate dort.

[5] Vgl. etwa Radikale Linke: Nie wieder Deutschland! Erklärung gegen „Wieder“- oder „Neuvereinigung“ von BRD und DDR, 21.1.1990, in: Kongressvorbereitungsgruppe (Hrsg.): Die Radikale Linke. Reader zum Kongreß vom 1.-3. Juni 1990 in Köln, Hamburg 1990, S. 193.

[6] Wir ersparen es uns an dieser Stelle, die „Sprache“ der Antinationalen vorzuführen. Wer lachen will, sollte ihre Texte lesen. Fehler wurden zugunsten der Lesbarkeit von uns verbessert.

[7] Bertolt Brecht: Flüchtlingsgespräche, Frankfurt/M 1961, S. 7f.

[8] Vgl. dazu Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft, München 2008 (12. Auflage), S. 358-376.

[9] U.a. wurden bekannte Israelfeinde und Islamapologeten wie Jutta Ditfurth, Werner Schiffauer und Georg Klauda eingeladen. Der Antifa AK paktiert seit neuestem sogar mit dem Kölner SAV-Ratsherr und Hisbollah-Freund Claus Ludwig.

[10] Dr. Motte würde sich übrigens auch inhaltlich bestens eignen. Schließlich sagte er 1995, ganz im Sinne der Antinationalen, bezüglich des Antisemitismus: „Dies ist mein Aufruf an alle Juden der Welt, sie sollen doch mal eine neue Platte auflegen. Und nicht immer nur rumheulen.“ Vgl. Wiglaf Droste: Jugend trainiert für Karneval, in: Der Spiegel, Nr. 26 (1998).

 

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