Das Tal der Türken, oder:
Ne mutsuz türkum diyene (1)

Zum Kinostart von „Tal der Wölfe: Palästina“ in Deutschland

Der unverwechselbare, individuelle Mensch stirbt aus, wenn es ihn je wirklich gegeben hat. Jeder und jede ist insofern austauschbar, als dass seine Lohnarbeit - sofern er noch eine hat - und seine sozialen Funktionen jederzeit vom Nächstbesten übernommen werden könnten. Die Einzelnen leben unter dem Eindruck einer prinzipiellen Überflüssigkeit und Abhängigkeit vom unberechenbaren Gott dieser Welt, dem Kapital, und seinem herrschsüchtigen Propheten, dem Staat. Die Menschen verbeugen sich - unabhängig von ihrem jeweiligen Glauben - regelmäßig vor den Geldautomaten, der wahren Qibla (2), und kämpfen in einem Heiligen Krieg aller gegen alle, in einem trostlosen Wettbewerb um Arbeitsplätze, Ausbildungsstellen, Beförderungen usw. Da sie wissen, dass sie in diesem Kampf allein nicht auf Dauer bestehen können, rotten sie sich, meistens ihren jeweiligen Traditionen folgend, zu Familien, Klans, Stämmen, Nationen, Religionsgemeinschaften zusammen, zu irgendeiner Art von „Wir“, das sie vor der Erfahrung der Ohnmacht schützen soll.

Doch der Preis für dieses schützende „Wir“ kann sehr hoch sein: Es lässt sich zunehmend beobachten, dass so manches „Wir“ - hier sei vor allem die islamische Identität genannt - die totale Unterwerfung des „Ich“ verlangt, und es gibt nicht wenige „Ichs“, denen es zur Lust geworden ist, sich selbst durchzustreichen und die sogar in der Unterwerfung (arab. islām), von (Selbst-)zerstörungswut angetrieben, mehr oder weniger bewusst den erlösenden Tod suchen, nach dem sie sich sehnen. Die Gemeinschaft, von der man sich Anerkennung und Respekt erhofft, verlangt dafür Anpassung und Gehorsam. Die Ehre, die man für sein Rückgrat hält, erniedrigt und verkrüppelt einen erst recht, weil man dafür als Individuum die Würde opfert.

Unter den zahlreichen Zusammenrottungen von Einsamen ist jene mit der Selbstbezeichnung „Türke“ eines der erbärmlichsten, bedauernswertesten, aber deshalb nicht weniger gefährlichen Identitätsangebote - dies gilt insbesondere bei Menschen, die sich in Deutschland aufhalten. Sich als „Türke“ zu definieren bedeutet aktuell unglücklich, unmündig und auch noch stolz darauf zu sein und zumindest seit der Gründung der Türkischen Republik 1923 schließt es immer auch die Feindschaft gegen „ausländische Mächte“ (mal Griechenland, mal Russland, mal der ganze Westen), „innere Feinde“ (wie Aziz Nesin, Hrant Dink, oder die Ergenekon-Verschwörer) und seit längerem schon  zunehmend „Ungläubige“, das heißt Christen und Juden, ein.

Der Film „Tal der Wölfe: Palästina“, der ab heute gezeigt wird, dem Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus, stellt einen konsequenten Tiefpunkt dieses türkischen Elends dar. Der Besuch des Kinos durch zahlreiche junge Menschen mit „Migrationshintergrund“, die die Heimat ihrer Vorfahren mit einem Fußballverein verwechseln, dem man begeistert durch dick und dünn, durch dumm und dümmer zu folgen hat, fügt dieses Kinoereignis perfekt ins deutsche Elend ein. Denn der extreme Antisemitismus des Films, der auf einen Aufruf zur „Rache an den Zionisten“, also zum Judenmord, hinausläuft, wäre so niemals in einem deutschen Film möglich gewesen. Die „Türken“ aber sind für die Verantwortlichen eine minderwertige Kundschaft, die nur eine jämmerliche Intervention der Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (nun FSK ab 18), aber nicht die Anwendung des Volksverhetzungsparagraphen wert gewesen ist. Und nicht wenige Deutsche freuen sich, dass andere hinausbrüllen, was man hierzulande heute immer nur andeutet: „Die Juden sind unser Unglück.“ In deutschen Betrieben sind die „Türken“ traditionell fürs Grobe zuständig, warum sollen sie also nicht auch in der öffentlichen Debatte die Drecksarbeit übernehmen? So erklärt sich, dass z.B. Claudia Roth den Vorgängerfilm „Tal der Wölfe: Irak“ zwar „richtig schlecht“, aber nicht volksverhetzend fand. Wer also als „Türke“ den neuen Film feiert, bei jeder Mordszene aufspringt und Allahü ekber schreit, wie beim ebenfalls antisemitischen Vorgängerfilm in vielen deutschen Kinos geschehen, spielt genau die Pitbull-Rolle, die ihm islamische Hetzer und antirassistische Israelkritiker zugedacht haben.

„Tal der Wölfe“ bringt die Propaganda für die angestrebte Politik des Ministerpräsidenten Erdoğan und seines Außenministers Davutoğlu auf das Niveau der türkischen Untertanen. In den Racheorgien des Filmhelden Polat Alemdar durchläuft die Republik Atatürks ihre letzte Verwandlung, bevor sie zu einem islamischen Gefängnis wird. Wie der Nachbar Iran, mit dem sich die neue Türkei prächtig versteht, wird man keine andere Krisenlösung mehr kennen als die Hetze gegen den Westen und vor allem gegen die „zionistischen Agenten“ des Staates der Juden, Israel. Während die Massen durch inszenierte antiisraelische Sensationen wie die Mavi Marmara in Stimmung gebracht werden, verschwinden in Ankara und anderswo die letzten kemalistischen Widerstände, die Armeeführung wird ausgetauscht und die Staatsanwaltschaften werden mit Erdoğans Freunden besetzt.

Der Hass auf die Juden und ihren Staat ist nicht nur ein Manipulationsmittel, um den ewigen Konflikt mit Kurden und Aleviten durch die Verlagerung auf einen gemeinsamen Feind ruhigzustellen. Und es geht auch um mehr als Erdoğans Ehrgeiz, sich in der Region als neo-osmanischer Beschützer der Muslime (Şeyh-ül İslam) anzubieten und eine „gelenkte Demokratie“ zu etablieren: Der Antisemitismus alla turca ist ein wahnhafter, von den unmündigen Massen getragener Drang zu Verfolgung und Vernichtung. Er war, wie die Armenier-Massaker beweisen, als Impuls schon im alten Kemalismus enthalten und macht sich sowohl bei Linken als auch bei Rechten, Islamisten und Nationalisten in Gestalt absurder Verschwörungstheorien sowie peinlicher, todessehnsüchtiger und stets racheheischender Märtyrerverehrung bemerkbar. Alle Strömungen der Türkei scheinen, dem Gesetz der Schwerkraft folgend, tatsächlich in einem tiefen ideologischen Tal zusammenzulaufen, in dem die barbarischen Wölfe heulen. Und die in Deutschland mitheulenden und -jaulenden Narren, die, anstatt sich einen anständigen amerikanischen Film oder einen Klassiker von Kemal Sunal anzusehen, aus einem Kinosaal eine miefige Wolfsschanze machen, drücken ihren Wunsch aus, sich unter der Führung des nächstbesten Alpharüden zu einer unmenschlichen Meute zusammenzurotten.

Der Grund für diese Intervention ist die Solidarität mit Israel, mit dem einen Staat also, der gegründet wurde, um die Verfolgung und Vernichtung der Juden praktisch - und das kann angesichts der Lage nur heißen: bewaffnet - zu verhindern. Es ist notwendig, die Feinde Israels, ob sie in Gestalt offen antisemitischer Wolfsrudel oder im Namen der „kritischen Freundschaft“ auftreten, als die Totengräber jeder Hoffnung auf Glück in einer menschenwürdigen Gesellschaft, auf „Verschiedenheit ohne Angst“, zu entlarven und sich ihnen in den Weg zu stellen.

Lang lebe Israel! İsrail bin yaşasın!


Anmerkungen:
(1) Wie unglücklich ist, wer sagt: Ich bin Türke
(2) islam. Gebetsrichtung nach Mekka


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