Festival der Meinungen
Über die Liebe der Deutschen zur Philosophie

Philosophie ist angesagt. Wo man sich unter Philosophen einst vergrübelte Männer mit wirren Haaren vorstellte, die verarmt und rotweintrunken abseits der Gesellschaft merkwürdige Thesen vertraten, sehen sich die Deutschen heute endgültig als das Volk der Meisterdenker. Längst sind es nicht mehr nur zottelige Oberstufenschüler, die beim gemeinsamen Joint ihr zusammenhangloses Gerede über Quentin Tarantino-Filme und „das System, das uns unterdrückt“ als Philosophieren bezeichnen, vielmehr sieht sich so mancher Bankangestellte, Grafikdesigner oder pensionierte Studienrat als intellektueller Heimwerker, wenn er die Welt mit tiefgründigen und originellen Gedanken beglückt.

Nicht nur Die Zeit erfreut ihre Leser im Rahmen der Zeit Akademie: Philosophie in  regelmäßigen Abständen mit Themen wie Ist die Liebe tot?, Was ist das gute Leben? oder der Philosophie des Radfahrens. Auch in den Zeitschriftenregalen, in denen immer neue Magazine zu finden sind, die durch massenkompatible Themenschwerpunkte bestechen, welche den Lesern Einzigartigkeit zu garantieren scheinen, liegen neben Business Punk, Beef! und 11Freunde längst Blätter wie Hohe Luft-Die Philosophiezeitschrift für alle, die Lust am Denken haben-, Abenteuer Philosophie und das Philosophie Magazin.

Die Redaktion der letzteren Zeitschrift konnte es sich angesichts dieses Trends nicht nehmen lassen, das nun erstmals in Köln stattfindende Festival phil.COLOGNE zu kuratieren.

Die phil.COLOGNE ist dabei ganz dem philosophischen Zeitgeist verpflichtet und deren Macher wissen laut dem bestürzend unbedarften Ankündigungstext: Die Philosophie ist wieder gefragt: Die Welt, in der wir leben, war noch nie so komplex wie heute. Nahezu alles Selbstverständliche hat seine Selbstverständlichkeit verloren. Es wird immer komplizierter, sich im Dschungel aus Wahlmöglichkeiten zu orientieren und den eigenen Weg zu finden. Dies war der Ansatz für die Gründung dieses neuen Festivals, dem Schwesterfestival der lit.COLOGNE. Grundidee ist, die Philosophie in die Mitte der Gesellschaft zu rücken und somit der allgemeinen und zusehends stärker werdenden Lust an philosophischen Fragen zu begegnen.

Es geht also nicht um eine Veranstaltung nach der sonst so beliebten Art eines ausgelagerten Universitätsseminars, in dem philosophische Begriffe oder Schulen verhandelt werden. Dies wäre zwar vielleicht langweilig, aber nicht weiter erwähnenswert und im besten Falle könnte man sogar noch etwas lernen. Der phil.COLOGNE geht es vielmehr um Grundsätzliches. Sie verfolgt einen ganzheitlichen Ansatz, dem es anstelle von Erkenntnis um Orientierung und Begegnung zu tun ist. In diesem Rahmen dürfen sich Kinder und Jugendliche zwar mit Fragen wie Warum bin ich auf der Welt? oder Ehrlichkeit und ihre Grenzen auseinandersetzen, Erwachsene werden hingegen mit einer Vielzahl an Diskussionen, Lesungen, Vorträgen und Workshops zu ausgesuchten Schwätzvorlagen wie Was macht Fußball schön?, Gibt es ein Recht zu sterben? und einem Kleinen Versuch über das Küssen herangelockt.

Als Star des ganzen Brimboriums hat man sich für die Auftaktveranstaltung Wozu Philosophie? mit Richard David Precht einen Mann ins Boot geholt, der wie sein Vorgänger beim ZDF, Peter Sloterdijk, oder der Pop-Philosoph Slavoj Žižek zu wirklich jedem Thema eine Meinung hat, und der sich zur Philosophie verhält wie Elke Heidenreich zur Literaturkritik.

Man könnte die phil.COLOGNE somit als ein weiteres belangloses Event neben Champions League-Finale und Rock am Ring abtun, das dem geneigten Publikum zu Zerstreuung wie Sinnstiftung dient, spräche sie, die doch ein Festival des Denkens – vielfältig, inspirierend, orientierend sein will, damit nicht so offen aus, woher die neue Liebe der Deutschen zur Philosophie resultiert: Aus dem Wunsch, im Dschungel der Meinungen Bescheid zu wissen und Teil eines vielfältigen und inspirierenden Ganzen zu sein – also aus dem Bedürfnis, nicht mehr denken zu müssen. Denken, gar Philosophie im emphatischen Sinne ist nämlich gerade kein Sich-Auskennen in den scheinbar so wichtigen „Themenfeldern“ vom Fußball bis zur Sterbehilfe, ist kein verstocktes Beharren auf der eigenen Meinung, sondern Selbstkritik des Geistes, Reflexion sowohl auf die gesellschaftlich vermittelte Ohnmacht wie auf die von Panik getriebenen Omnipotenzansprüche des Ichs. Als Kritik entzündet sich Denken als subjektiver idiosynkratischer Impuls vielmehr an zufälligen, oftmals scheinbar unbedeutenden Erfahrungen und richtet sich damit gegen das Subsumieren und Klassifizieren – das Geschäft der Berufsphilosophen –, mit dem Ziel, den Begriff gegen sein zurichtendes Wesen selbst zu wenden. Anstatt sich scheinbar mächtig über die Sache zu erheben, lässt sich Denken auf die ihr innewohnende Heteronomie ein. Die phil.COLOGNE ist mit all ihren Workshops, ihren Stars und Sternchen ein Ausdruck der verwalteten Welt, deren Agenten und Rackets in ihrem Beherrschungseifer nicht einmal vor dem Denken Halt machen. All das Gerede von Orientierung und eigenem Weg ist Zeugnis der Illusion, souverän über die Sache zu verfügen. Die Sprache verrät, dass dem Wunsch, sich ja nicht in seinen vorgefertigten Anschauungen erschüttern zu lassen, in Wahrheit Unsicherheit und Erfahrungsunfähigkeit zugrunde liegen.

Über Arbeit darf der Gewerkschaftsphilosoph Oskar Negt mit der Linksparteipolitikerin Sahra Wagenknecht streiten, Frank Schirrmacher und Rangar Yogeshwar plaudern über die Auswirkungen der Informationstechnik und die Lutherbotschafterin Margot Käßmann weist den Weg in die bessere Gesellschaft. Es geht hier nicht um das Glück der Erkenntnis, sondern lediglich um Feinjustierung für das reibungslose Funktionieren im alltäglichen Betrieb. Jeder weiß ja insgeheim, dass das Leben in der spätkapitalistischen Gesellschaft nichts als Trostlosigkeiten bereithält und dass es in diesem Käfig voller Narren nur darum geht, den anderen die Futterration zu klauen. Die einen haben in ihrer Überflüssigkeit für den gesellschaftlichen Produktionsprozess noch die letzten Reste von Selbstbestimmung und menschlicher Würde an den Staat abzutreten, der sie gnädig vor dem Verhungern und Erfrieren bewahrt, dafür aber auch die Einsicht in die Notwendigkeit des Zwanges verlangt. Die anderen versuchen, diesem furchtbaren Schicksal zu entrinnen und sind dafür bereit, jede erdenkliche Zumutung in Kauf zu nehmen. Der Kampf um die begehrten Jobs erfordert ihren permanenten Einsatz, er bestimmt ihr ganzes Leben, da die Gefahr des Absturzes ins Heer der Überflüssigen nie endgültig gebannt werden kann.

Ständig sind die solcherart verzweifelten Subjekte auf der Suche nach Halt und einem gangbaren Weg durch den Dschungel der zweiten Natur. Die Philosophen stehen bereit, ihnen ihre Wünsche zu erfüllen und bieten ihre Waren feil. Es wäre unfair, etwa Prechts Warenangebot als Betrug zu bezeichnen, denn jeder Käufer weiß ja, dass der Mann ein schlecht verhüllter Scharlatan ist, dennoch spricht die Vereinigung von Philosophie und Schaustellertum Bände über den Zustand des Denkens: „Die Philosophie bietet keine eindeutigen Antworten oder einfachen Rezepte, aber sie kann uns helfen, intelligenter über uns selbst nachzudenken.“, weiß man daher in der Einladung zur Auftaktveranstaltung. Der Budenzauber wird so weit getrieben, dass man es nicht einmal mehr nötig hat, die Illusionsspiegel zu verdecken. Der unvermeidliche Komparativ der kapitalistischen Konkurrenz kommt sogar da ins Spiel, wo es um etwas eigentlich so selbstverständliches wie die Selbstreflexion geht – diese muss zwangsläufig intelligenter vor sich gehen als beim Nebenbuhler.

Die täglich von allen erfahrene Ohnmacht, die in Fragen wie Gibt es überhaupt noch ein autonomes Ich mit Willensfreiheit und Wahlmöglichkeiten, oder sind wir mittlerweile völlig fremdbestimmt und werden von komplexen Systemen, die wir selbst installiert haben, wie Marionetten gesteuert und einem absoluten Optimierungswahn unterworfen? auch bei den Veranstaltern der phil.COLOGNE anklingt, wird nicht eingestanden und kritisiert. Stattdessen fragt man sich mit Frank Schirrmacher, welche Gegenmaßnahmen wir angesichts der vielfachen Krisen ergreifen müssen, um unsere Gesellschaftsordnung, unsere Demokratie und das, was dem Menschen wichtig ist, auch in Zukunft nachhaltig zu schützen.

Die nachbürgerlichen Subjekte sind darauf versessen, ihre angemaßte Vorherrschaft über die leider sehr zu Recht als feindlich angesehene Außenwelt abzusichern, sich weiter als Herr im Haus und Zentrum der Welt zu behaupten. Dem zur Erfahrung unfähigen Subjekt ist somit die Sache, mit der es sich befasst, vollkommen egal. „Grenzenlos belehnt es die Außenwelt mit dem, was in ihm ist; aber womit es sie belehnt, ist das vollkommen Nichtige, das aufgebauschte bloße Mittel.“ (Adorno/Horkheimer) Gerade diese Unfähigkeit zur Befassung mit der Sache, die Abwehr jeglicher Überwältigung von Außen sorgt nun dafür, dass die nachbürgerlichen Subjekte ganz bei sich verharrend noch die banalsten Dinge mit Bedeutung aufladen und selbst ihre samstäglichen Stadionbesäufnisse unter dem Titel Ist Fußball schön? zum Gegenstand ebenso tiefgehender wie nichtssagender Beobachtungen erheben müssen. Deswegen können sie auch über alles ein Streitgespräch führen. Der Inhalt ist ohnehin vollkommen egal, es geht allein darum, die in der Form des Meinens und Auskennens zur Schau gestellte Allmacht zu präsentieren.

Die derart auf Kongressen wie der phil.COLOGNE vorherrschende asoziale Geselligkeit resultiert daraus, dass jedem der andere zwar als potentieller Gegner erscheint, es aber dennoch für alle wichtig ist, Teil eines Ganzen zu sein, das die eigene scheinbare Überlegenheit bestätigt. Nicht umsonst, weiß man daher mit Richard David Precht, dass die Philosophie eine Art ‚Supervisor-Wissenschaft‘ ist, die über anderen Wissenschaften wie etwa Medizin oder Jura steht, sich mit diesen beschäftigt und ihren Experten hilft, sich selbst besser zu verstehen. Das gilt auch für heute gesellschaftlich brisante Themen wie Ökonomie oder Bildung.

Dem Racket der Philosophen geht es also um Distinktionsgewinn gegenüber den 11Freunde lesenden Fußballfans oder den Grillfreunden der Beef, um so ihre narzisstische Selbstbezüglichkeit auszuleben. Die scheinbar plötzlich auftauchende Begeisterung der Deutschen für die verschiedensten Phänomene hat hier ebenso ihren Grund wie deren plötzliches Abklingen. Was gestern Public Viewing war, ist heute die phil.COLOGNE: Die Liebe der Deutschen zur Philosophie ist nichts anderes als ihre traurige Liebe zu sich selbst.



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